Leben und Werk

Donatello Losito, Berliner Künstler mit italienischen Wurzeln, und Sigrid Kressmann-Zschach, seinerzeit eine der berühmtesten Architektinnen und Bauunternehmerinnen Deutschlands, begegneten sich im Jahr 1969. Für beide entwickelte sich aus einem sommerlichen Ausflug rasch ein ungewöhnlich tragfähiges Fundament der Partnerschaft, stabil bis an das Lebensende. Ihre liebevolle Lebensgemeinschaft, 1977 durch die Eheschließung besiegelt, gab Losito die Kraft und die Möglichkeiten zu einem zwei Jahrzehnte währenden produktiven künstlerischen Schaffen, einem herausragenden Zeugnis seiner vielfältigen Talente. Mit seinem Namen verbinden sich seither zahlreiche Werke großer Eindrücklichkeit – Zeichnungen, Grafiken, Objekte, Tafelbilder.
Sommernachtstraum, 1986, aus dem Zyklus Schwarz auf Weiß ohne Boot, Gemälde: D. Losito
Sommernachtstraum, 1986, aus dem Zyklus Schwarz auf Weiß ohne Boot, Gemälde: D. Losito
Sigrid Kressmann-Zschach fand in Donatello Losito den Lebenspartner, der ihr auch in den bewegten Zeiten der siebziger und achtziger Jahre Halt und Zuversicht gab. Die Architektin und Diplom-Ingenieurin für Bauwesen hatte in wenig mehr als einem Jahrzehnt – siehe hierzu die Zeittafel von Kressmann-Zschach – ihr Architekturbüro zu einem weit über Berlin hinaus strahlenden Unternehmen entwickelt. Sie war nicht nur die ideenreichste, attraktivste Architektin der Stadt, dank Tatkraft, Schnelligkeit und Durchsetzungsvermögen beschäftigte sie auch bis zu 300 Mitarbeiter. Der Wiederaufbau des schwer kriegszerstörten Berlin (West) ist ohne Sigrid Kressmann-Zschach nicht vorstellbar. An Donatello Losito, dessen Lebensweg auf andere Weise zu großen Höhen führte, hat den berühmten Berliner Kulturkritiker Heinz Ohff am meisten die „seltsame Tatsache“ verwundert, „dass er ein Künstler geworden, obwohl oder weil er keiner werden wollte.“ Losito habe das ominöse „Künstlertum“ keineswegs als Aufgabe oder gar Berufung empfunden, sondern sich, ganz im Gegenteil, „lange dagegen gewehrt, nicht aus modischer Verweigerung – es war lange Jahre hindurch todschick, keinen Pinsel in die Hand zu nehmen und sich trotzdem als Maler zu bezeichnen – , sondern aus Erfahrung und persönlicher Skepsis“. Losito blieb seiner Grundstimmung ein Leben lang treu: Keine künstlerische Aktivität war ihm je überwertige Idee; er hielt Distanz zu der in Berlin oft eigentümlich egozentrischen Künstlerszene; niemals machte er sich Illusionen über die angeblich machtvollen Wirkungen künstlerischen Tuns.
1984, 1980/81, aus der Reihe Zahlenlandschaften, Gemälde: D. Losito
1984, 1980/81, aus der Reihe Zahlenlandschaften, Gemälde: D. Losito
Lositos realistische Lebenshaltung hatte ihr Fundament in seinem Elternhaus. Sein italienischer Vater Luigi Losito war Maler und Bildhauer, ein temperamentvoller Mann, dessen Oeuvre noch heute beeindruckt. So unruhig die Zeitläufe Mitte des vorigen Jahrhunderts auch waren und so zahlreich die Orte, an denen Donatello Lositos Vater wirkte, blieb er doch stets mit seiner aus Chatelle St. Germain/Elsaß stammenden Ehefrau Lieselotte erfolgreich bemüht, das Leben ihrer drei Kinder durch Festigkeit, Kontinuität und bürgerlichen Realismus zu formen. Der tabellarische Lebenslauf Donatello Lositos legt hiervon Zeugnis ab.
Anti - ABC - System, 1982/84
Anti – ABC – System, 1982/84, Foto: D. Losito
Losito erhielt in Magdeburg eine solide, handwerklich geprägte dreijährige Ausbildung als Stuckateur. Darauf aufbauend standen die Studien an der Meisterschule für das Kunsthandwerk in Berlin (West) und der Besuch der Akademie für Grafik, Druck und Werbung. Nur so, versehen mit einem perfekten handwerklichen Rüstzeug, konnte Losito schon in jungen Jahren seine künstlerische Meisterschaft erreichen. 1972 schrieb der Kunstkritiker Helmut Kotschenreuther über die erste große Einzelausstellung des damals 32-jährigen: „Losito hat einen durch Sensibilität geschärften Blick für das Groteske, das Komische, das Unheimliche, das Inhumane in unserer desolaten Welt und zugleich die Fähigkeit, dafür die bündigste, die ‚schlagende‘ bildnerische Formel zu finden“. So war es, so blieb es. Welchen Themen sich der Künstler auch zuwandte, wie weit gespannt seine Interessen wurden und welcher Mittel er sich bediente: Lositos Sicht auf die Welt unterlag keinen modischen Schwankungen, sie war jedoch, – das lässt sich nach seinem Tod sagen – , weit vorausschauend: Kein zweiter deutscher Künstler hat die -„digital vernetzte Welt“ des 21. Jahrhunderts so früh, so treffend – und das heißt: bedrohlich – erkannt. Als Losito Anfang der siebziger Jahre den Computer als Objekt der Kunst entdeckte, da war das Wort „Internet“ noch nicht erfunden, nur einige Physiker wussten, was „gedruckte Schaltungen“ wohl sein könnten und die Horrorvisionen des durchsichtigen Menschen entbehrten realer Fakten. Die Überwachungsfanatiker jedweder Provenienz behielten ihre universellen Fantasien für sich, in West und Ost gleichermaßen.
Cornuto mephisto, 1986/87, Gemälde: D. Losito
Cornuto mephisto, 1986/87, Gemälde: D. Losito
Es war Donatello Losito, der in einer sehr frühen Arbeit – 1971, das Blatt heißt „Zwischen den Blöcken“ – dem Unbehagen ein erstes Bild gab. Das Blatt zeigt zwei Kuben, gleich groß, gleich bedrohlich. Ihre überlebensgroßen Wände sind aus gedruckten Schaltungen, dem Sinnbild endloser, fesselnder Verdrahtung. Der mit wenig Strichen skizzierte Mensch ist zwischen den Kuben auf der Flucht. Im „Charlottenburger Kunstmagazin“ hat Donatello Losito 1984 seine Position erläutert: Er sei „persönlich kein oberflächlicher Kritiker“, denn vieles an den „neuesten Techniken, etwa die Mikroelektronik oder der Raumfahrt begeistert mich, hat mein Interesse. Was mir wichtig erscheint, ist die Frage von Nutzen oder Schaden der Technik und nur danach sollte man handeln.“ Das Verstrickt- und Gefangensein durch eine mögliche Tyrannei der Technik erschien Losito nicht zwingend. Stets komme es, bei jedem Einzelnen als auch bei den „Großen“, auf verantwortliches Handeln an. Die neuen Dimensionen des heraufziehenden Computerzeitalters setzten nach der Meinung des Künstlers die basale Natur der Beziehung Mensch – Natur nicht außer Kraft. Integrierte Schaltkreise als Objektträger, oft farbig eingespritzt, der Osten rot, der Westen blau, verdichten sich zu Werken einer fast „pervers schönen Ästhetik“, wie das Kunstmagazin 1984 fand. Jedoch: „Mit den Worten Verbindung, Verknotung, Vernetzung an sich spiele ich auf grundsätzliche Vernetzung von Natur und Mensch an“ sagt Losito. Und außerdem zeigt er auch einen Weg ins Freie. So ist der Objektkasten „Im Notfall“ (1981), der bedrohlich graue Schaltkreise zeigt, mit einer blutroten Notfall-Axt bestückt, falls es ganz schlimm kommt. Denn niemals verliert der Künstler Losito das Alltäglich-Politische aus dem Blick. Dazu ist es ihm zu nahe, hat oft und gewaltsam in sein eigenes Dasein eingegriffen. Weil er 1961, nach dem Mauerbau des 13. August, als Fluchthelfer Verwandten, Freunden, Kommilitonen und Professoren aus dem Weggesperrtwerden heraushalf, hat ihn die DDR bei der ersten sich bietenden Gelegenheit – einem Besuch bei seiner Mutter in Magdeburg – verhaften und wegen „Beihilfe zur Republikflucht und Urkundenfälschung“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilen lassen. Nach eineinhalb Jahren kaufte die Bundesregierung ihn frei.
Alta moda, 1988/89, Gemälde: D. Losito
Alta moda, 1988/89, Gemälde: D. Losito
Freiheit hatte für Losito in Berlin (West) eine Heimstatt und in Italien, dem Land des Vaters. Vor und nach der Zuchthausstrafe tat er das Seine, um der Freiheit Dauer zu geben. Seine Karikaturen, die er en passant das ganze Leben lang gezeichnet hat, sind immer politisch. Sie wenden sich – beispielsweise – gegen den im Kalten Krieg drohenden Atomschlag, gegen die Vernichtungsszenarien der Großmächte und die Repression der Kinderrechte. Seine Sympathien galten den Kleinen, den Schwachen, den Aufrechten. Als die für 1987 vorgesehene „Volkszählung“ auf starken Widerstand trifft, gibt Donatello Losito dem Widerstand die gültige künstlerische Form. Die illustrierte Berliner Stadtzeitung „Zitty“, auflagenstark und einflussreich, druckt im Mai 1987 als Titelbild eine Zeichnung Lositos: Mit erhobenen Händen werden ein Mann und eine Frau dargestellt. Ihre Gesichter kann man nicht erkennen. Menschliches Leben zeigt sich nur an den bloßen Händen und Füssen. Alles andere decken vernetzte Schaltungen zu. Das Bild steht in der großen Tradition des Apokalyptikers George Orwell, der „1984“ geschrieben hat und damit dem staatlich verordneten Grauen erste Konturen gab. Lositos Bild im Format 92 x 70 cm gehört zu dem Zyklus „Schwarz auf Weiß ohne Boot“. Er kombinierte Montage und Gouache.
Die Utopie der Versöhnung, 1989, Gemälde: D. Losito
Die Utopie der Versöhnung, 1989, Gemälde: D. Losito
Seine Kunst sucht das Detail hinter dem Schrecken – und sei es winzig klein, etwa der vernetzte Schaltkreis oder auch die anatomisch-histologische Struktur. Donatello Lositos Schwester Tiziana, eine Chirurgin, erklärt ihm die Möglichkeiten und Feinheiten der professionellen Mikroskopie. Das Selbststudium des Schattenreichs hinter dem banal Sichtbaren fesselt ihn lange Zeit. Die oft nur skizzierte anatomische Struktur wird ein fester Bestandteil seiner erstaunlich variablen Bildkunst. Von ihr legen die Zeichnungen, mit denen Losito „Candid“, den berühmten philosophischen Roman Voltaires 1980 illustrierte, ein weithin beachtetes Zeugnis ab. Das großformatige Buch erscheint 1981, es zeigt 18 Blätter im Format 41 x 29 cm mit über 100 einzelnen Zeichnungen, die zueinander in fragmentarischer Verbindung stehen. „Es erschien mir reizvoll“ schreibt Losito in einer Anmerkung, „als Zusatz den einzelnen Blättern verschiedene Artikel aus der französischen Verfassung von 1793 beizufügen“. Dieses jakobinische Grundgesetz war das weitaus progressivste seiner Zeit und deshalb ist nicht verwunderlich, dass es nie richtig in Kraft trat.
5 Girls da Berlin, 1987/88, Gemälde: D. Losito
5 Girls da Berlin, 1987/88, Gemälde: D. Losito
„Candide ou l’optimisme“, 1759 erschienen, 1776 unter dem Titel „Candide oder Die beste Welt“ erstmals ins Deutsche übertragen, schildert Episoden aus dem Leben eines Aufrichtigen, eines Treuherzigen. Es liegt nahe, dass Donatello Losito dem Thema begegnet und das es ihn fasziniert. Seine „Paraphrasen“ sind unter den vielen Illustrationen, zu denen dieser Text Künstler seit zweieinhalb Jahrhunderten inspiriert, herausragend. Sagen wir es so: Sie hätten Voltaire gefallen. Wie im „Candid“ Realitäten und Utopien einander abwechseln, indem „sie unversehens ineinander münden“ urteilt Heinz Ohff 1981, „wechseln sich Stilformen, Modernes und Altes, Symbole und Allegorien in Lositos Zeichnungen miteinander ab, indem sie sich die Bälle zuspielen. Das hat etwas zugleich Überlegenes und Überlegtes, wie es jene frisch zupackende Spontaneität besitzt, die den gewieften, durch viele Schulen gegangenen Zeichner doch immer wieder, in beiderlei Wortsinn, auszeichnet.“ In den Jahren 1970 bis 1990 – den beiden fruchtbarsten Jahrzehnten in Donatello Lositos künstlerischem Schaffen – werden Breite und Tiefe seines Talentes auf vielerlei Weise sichtbar, von der Öffentlichkeit bemerkt und honoriert. Dem Künstler werden sechs Einzelausstellungen, darunter in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn und im Vaterland Italien, gewidmet. Er nimmt an mehr als einem halben Hundert Ausstellungen teil. Sein Name findet Eingang in zahlreiche Kunstpublikationen jener Zeit. Doch der Erfolg zieht Losito nicht, wie so manchen anderen Künstler, aus dem Atelier in die „Szene“, von der Staffelei in egomane Welten. Er bleibt sich treu, arbeitet in den Sommermonaten in Sardinien, wo er am Meer ein Haus gebaut hat. In jenen Jahren entstehen große Zyklen: „Kain und Abel am Computer“; Porträts, darunter seiner Frau Sigrid und der Berliner Künstler Jule Hammer und Ben Wagin; er vernetzte Porträtaufnahmen mit Röntgenbildern und findet – um hier nur die wichtigsten Arbeiten zu nennen – in der Figuration „Alta moda“ eine ganz eigene Form: „Ein Liniengewebe, das zugleich als Körper, Relief, Schnitt oder Plan gesehen werden kann,“ so der Kunstkritiker Christoph Asendorf, „ein Vexierbild der Kommunikation und Konsumtion, des eigenen Kreislaufs von Energie und Innovation“. Die Partnerschaft zwischen Donatello Losito und Sigrid Kressmann-Zschach ist vom Künstler stets als glückliches Fundament seines Schaffens bezeichnet worden. Die Verbindung hielt allen durch äußere Umstände bewirkten Belastungen stand; ihre 1977 geschlossene Ehe beendete erst der allzu frühe Tod Sigrid Kressmann-Zschachs im Jahr 1990. Die Architektin und Diplom-Ingenieurin für Bauwesen stand jahrzehntelang im Blickpunkt der Öffentlichkeit. In den sechziger Jahren war sie die wohl produktivste Architektin Deutschlands, ja Europas. Sie baute ganze Wohnsiedlungen, aber auch Kirchen, Hotels und Bürohäuser, Ferienanlagen und Villen, Ladenstraßen. 1969 sagte sie ohne falsche Bescheidenheit: „In Europa kenne ich keine Architektin, die so große Bauvorhaben plant und abwickelt wie ich“.
Sigrid Kressmann-Zschach mit Mitarbeitern
Sigrid Kressmann-Zschach mit Mitarbeitern , Foto: DAU/Quick
Die Architektin war eben ein Ausnahmetalent. „Außerordentlich intelligent, hellwach, zäh und hochbegabt“ sei die Architektin, urteilte die seriöse Wochenzeitung „Die Zeit“ damals, dazu sehr fleißig und diszipliniert. Für viele ihrer Kollegen war sie „das Vorbild einer emanzipierten Frau“, zu Zeiten, als die Gleichberechtigung noch in ihren Anfängen steckte. Ihre Hauptfirma nannte sie „Avalon“, nach der mythischen Insel der Seligen und der goldenen Äpfel. Sigrid Kressmann-Zschach, schrieb die „Hamburger Morgenpost“ staunend, „ändert das Gesicht Berlins“. Das war auch bitter nötig. 1945, als der Krieg endlich zuende war, lagen 70 % der Stadt in Trümmern, weitere 15 % der Bausubstanz war beschädigt. Die überlebenden Bewohner und jene, die vor dem Bombenkrieg geflohen und zurückgekehrt waren, lebten in einer Ruinenstadt. Als die Leipzigerin Sigrid Kressmann-Zschach nach dem Studium der Architektur und des Bau-Ingenieurwesens – normalerweise galt das Fach als reine Männerdomäne – 1952 nach Berlin umzog, beschäftigte ihr erster Arbeitgeber sie als „Bauzeichnerin“, für 1 Mark 50 pro Stunde. Dabei blieb es nicht. Schon im folgenden Jahr gründete die 24-jährige ein eigenes Architekturbüro und erledigte als ersten Auftrag die Rekonstruktion eines zerbombten Wohnhauses (für 2500 Mark). Ganz aus eigener Kraft, stimuliert von einer nie versiegenden Tatkraft, ging es unaufhaltsam weiter nach oben, wie die Liste der darauf folgenden Projekte zeigt: Neubau eines Einfamilienhauses, Mietshaus mit 24 Wohnungen, Wohnsiedlung. Eine solche Karriere macht Neider, zumal im Baugewerbe. Objektiv betrachtet war es, wie „Die Zeit“ urteilte, jedoch so: „Sigrid Kressmann-Zschach hatte als einzige in der Stadt die Übersicht und alle wichtigen Informationen“ – einfach durch Tüchtigkeit, Fleiß und Intelligenz. Berlin (West) – genaugenommen nur eine Halbstadt – war während der Jahrzehnte, in denen Sigrid Kressmann-Zschach hier lebte und wirkte, nicht zu vergleichen mit anderen deutschen oder europäischen Großstädten. Die politische Führung lag, bei aller Großzügigkeit im Detail, bei den drei alliierten Schutzmächten, den Amerikanern, Engländern und Franzosen. Die Wirtschaft der Stadt war durch den Weltkrieg mindestens ebenso stark mitgenommen wie die Bausubstanz – nur zeigte die Ökonomie wegen der äußerst unvorteilhaften Randbedingungen eine stark gedämpfte Erholungsbereitschaft. Mit westdeutschen Lebensbedingungen konnte Berlin nur mithalten, weil es vielerlei Unterstützung und Hilfen von Seiten der Bundesregierung gab. Unternehmerinnen wie Kressmann-Zschach waren in Berlin eine rare Ausnahme – und sie hatten es nicht leicht. Erstens wegen der politischen Lage, zweitens wegen der psychosozialen Besonderheiten, die Berlin (West) nach Teilung, Blockade und Mauerbau entwickelt hatte. So begegnete die Öffentlichkeit herausragenden Persönlichkeiten keineswegs nur mit Ermunterung. Auch der personalstarke öffentliche Dienst war, alles in allem, kein Stimulus für Eigeninitiative, privaten Erfolg und Karriere. Um so höher ist der ganze private, der persönlichkeitsspezifische Anteil am Erfolg der Architektin, Bauherrin und Arbeitgeberin zu werten. Ihre – nur im ersten Augenblick kess wirkende – Bemerkung, sie kenne in Europa keine Berufskollegin, die es so weit gebracht habe wie sie, ist ja nichts weniger als wahr. Die ganze Wahrheit ist sogar noch eindrucksvoller: Bisher ist Sigrid Kressmann-Zschach, was die Summe ihre bewältigten Bauvorhaben angeht, die wohl bedeutendste deutsche Architektin. Vor ihr, zu ihren Lebzeiten und seit ihrem Tod hat wohl keine Berufskollegin diese Dimension auch nur annäherungsweise erreicht. Allein in Berlin (West) hat sie mit ihrem Architekturbüro Hunderte von Wohn– und Geschäftshäusern, Bürohäuser, Appartmenthäuser, Studentenwohnheime, Gemeinde- und Sozialzentren, aber auch Eigentumswohnungen, Terrassenhäuser und Einfamilienhäuser geplant und errichtet. Von den realisierten Bauvorhaben seien in der Reihenfolge ihrer Errichtung einige Beispiele genannt:
Jerusalemkirche Lindenstr./Markgrafenstr., 1968, Foto: A. Bonitz
Jerusalemkirche Lindenstr./Markgrafenstr., 1968, Foto: A. Bonitz
1965 Verwaltungsgebäude der Deutschen-Lloyd-Versicherung in Berlin-Wilmersdorf, Uhlandstraße 75, 1966 Einfamilienhaus des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen in Berlin-Grunewald, Koenigsallee, 1967 Gemeindezentrum der Jerusalemskirche in Berlin-Schöneberg, Landgrafenstraße/Lindenstraße, 1968 Sozialzentrum mit Behinderten-Werkstatt, Alters- und Behinderten-Wohnheim in Berlin-Neukölln, Flughafenstraße 64 – 68, 1969 Terrassenhäuser mit Bungalow in Berlin-Grunewald, Koenigsallee 69 – 71, 1970 „Lützow-Center“ Appartement-Hochhaus, Bürohäuser, Studentenwohnheim, Schwimmbadanlage, Parkhaus in Berlin-Tiergarten, Lützowufer, Landgrafen-, Wichmann-, Keithstraße, 1971 Bürohaus der Deutschen Beamten-Versicherung in Berlin-Charlottenburg, Knesebeckstraße 56 – 58, 1971 Bürohochhaus der UCC in Berlin-Tiergarten, Budapester Straße 1 – 3, 1972 „Ku’damm-Karree“, Einkaufs– und Vergnügungszentrum unter Integration der zu erhaltenden Theater „Komödie“ und „Theater am Kurfürstendamm“ als Altbausubstanz, Einkaufspassagen, 20-geschossiges Bürogebäude, Parkhaus in Berlin-Charlottenburg, Kurfürstendamm 206 – 209, 1973 Steglitzer Kreisel, Bürohochhaus mit Einkaufszentrum, Warenhaus, U-Bahn, Busbahnhof, Sigrid Kressmann-Zschach hat ihr Handwerk bei dem seinerzeit sehr bekannten Architekten und Hochschullehrer Karl Wilhelm Ochs (1896 – 1988) gelernt. Über ihn urteilten die Zeitgenossen, dass seine Bauten Meisterwerke der Einfachheit gewesen seien und deshalb alle Moden überdauerten. Frau Kressmann-Zschachs Vater, der Leipziger Bauunternehmer Friedrich Zschach hat ihr als eigene Lebensregel zusätzlich auf den Weg gegeben, dass auch die Qualität und Motivation der Mitarbeiter über Wohl und Wehe der Firma entscheidet. Selbst sehr kritisch gestimmte Beobachter haben niemals angedeutet, dass es bei Frau Kressmann-Zschachs „Avalon“ oder den zahlreichen Projektgesellschaften daran gemangelt haben könnte. Ein Arbeitsplatz in diesem Architekturbüro galt als sehr erstrebenswert – nicht nur deshalb, weil die Chefin zu Betriebsausflügen auf die griechische Insel Rhodos und nach New York einlud.
Lloyd Versicherung, 1965, Uhlandstr. 75
Lloyd Versicherung, 1965, Uhlandstr. 75, Foto: D. Losito
Der „Steglitzer Kreisel“ (1968 –1974), ein Großprojekt, geriet in vielerlei Hinsicht zum Nonplusultra. Das Hochhaus – 130 m, 27 Stock – im Süd-Westen Berlins gelegen, setzt noch Jahrzehnte später einen kraftvollen architektonischen Akzent. Es war in den sechziger Jahren jedoch auch der sichtbare Beweis, dass Berlin mit den großen Metropolen der Welt, mit London und New York, mithalten kann. Im Untergeschoss des Steglitzer Kreisels findet man U-Bahn und Busbahnhof, das streng gegliederte Hochhaus beherbergte zahlreiche Ladenlokale, ein Hotel, Sportanlagen, Tagesstätten für Kinder und zahlreiche Büroräume. Der Blick vom Restaurant in der 24. Etage geht über ganz Berlin. Die Mauer war vom Kreisel aus gesehen keine Grenze: Potsdam, sogar der Hohe Fläming lagen dem Gast gleichsam zu Füssen. Dem Bauwerk war kein glückliches Schicksal vergönnt. Erst geriet die Finanzierung ins Schlingern und „Avalon“ in Insolvenz. Knapp zwei Jahrzehnte später wurde Asbest im Bauzement gefunden. Die gesundheitlichen Gefahren, die von diesem Stoff ausgehen, waren zur Bauzeit in den sechziger Jahren unbekannt. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts begann ein langwieriges Sanierungsverfahren. Die Architektin Kressmann-Zschach hat das nicht mehr erlebt. Aus den politischen und juristischen Querelen, die das Kreisel-Schicksal auslöste, ging sie rehabilitiert hervor. Der Trubel hat sie im Übrigen nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie unterhielt weiter ein erfolgreiches Architekturbüro in Berlin, an alter Stelle am Halensee. Auch die sozialen und künstlerischen Aktivitäten des Ehepaars Losito-Kressmann-Zschach änderten sich nicht. Der Rat des Ehepaars blieb gefragt. Die Architektin war lebenslang aktives Mitglied des Bauhaus-Archivs, der Freunde der Nationalgalerie, des Kulturkreises der Deutschen Industrie, des Vereins die Freunde und Förderer des Nationalmuseums und der Karl-Hofer-Gesellschaft – und wenn es not tat, half die Familie Losito-Kressmann-Zschach mit großzügigen Spenden. Das, so erklärte die Architektin in ihrer unprätentiösen Art, gehöre zur moralischen Verpflichtung des Eigentums.
UCC Haus, 1971, Budapesterstr. 1 – 3, Foto: A. Bonitz
UCC Haus, 1971, Budapesterstr. 1 – 3, Foto: A. Bonitz
Erst 13 Jahre nach dem Tod seiner ersten Ehefrau war Losito wieder bereit, sich dauerhaft an eine Frau zu binden. Er ging mit Joanna Fraino eine Lebensgemeinschaft ein und heiratete sie am 1.  Juni 2007. Ihr gewährte er Einblick in seine künstlerischen Ideen und Pläne, die er verwirklichen wollte, wenn der Arbeitsalltag in seinem Leben zurückgetreten sei. Dazu kam es nicht. Joanna Losito war bei ihm, als er am 19. Februar 2008 in seinem Haus starb. Die Ziele der Stiftung sind vielfältig und lassen Raum für kulturelle und soziale Förderungen. Die Überzeugungen des Stifters, abgestimmt mit seiner vor-verstorbenen Ehefrau Sigrid Kressmann-Zschach spiegeln sich in den Zwecken: Das öffentliche Gesundheits- und Wohlfahrtswesen, insbesondere repräsentiert durch freiwillige Institutionen, lag den beiden wegen ihrer Lebenswege und Erfahrungen am Herzen. Weiterer Zweck der Stiftung ist die Förderung von Kunst und Kultur. Das ist ein naheliegendes Ziel für den Stifter und es ist auch naheliegend, dass einzelne Personen in diesem Sinne Unterstützung erfahren können. Das Individuelle und das Große gehen in der Förderung des Berliner Holocaust-Denkmals eine sichtbare Verbindung ein: Für dieses Denkmal hat Losito bereits zu Lebzeiten großzügig gespendet. Die Stiftung „Losito • Kressmann-Zschach Foundation“ rückt den Namen der beiden in den richtigen, auch repräsentativen Rahmen und sie bewirkt, was beiden besonders am Herzen lag: Hilfe für die, denen Hilfe nottut; Mildtätigkeit; Gemeinsinn. Hans Halter, Berlin 2010